Abgehängt

Ich hole tief Luft. Ich spüre die klare Morgenluft. Die Frühlingssonne löst den Nebel schnell auf. Die Aufregung um mich herum erscheint mir fern: das Schnattern der Sterblichen; das wilde Gestikulieren des kleinen Eichhörnchens in ihrer Mitte; die fernen Schreie und Rufe aus Ostolin’s Hold von jenseits der Schlucht. Ich hole tief Luft.

Tatsächlich hole ich gar keine Luft, ich brauche keine. Ich bin ein Wesen der äußeren Ebenen, gebunden an eine Sonnenklinge. Aber ich stelle mir vor, ich könnte das tun. Wie schön das wohl wäre. Und wie schrecklich es wäre, keine Luft zu bekommen. Wie die armen Seelen, die am Galgen der Faust der Gerechtigkeit drüben in Ostolin’s Hold ihren letzten Lufthauch getan haben. Wie die arme Familie vor einigen Tagen, die wir gefunden hatten. Und jetzt kennen wir die Täterin: Reverenz Prarol Suzita.


Am Tag zuvor standen wir noch alle in einem Raum mit dieser abscheulichen, goldgeschuppten Kreatur. In Hauptquartier der Faust der Gerechtigkeit. In der Festungssiedlung von Ostolin’s Hold. Und wie beiläufig die Anführer der Faust, Sir Aethelred und die eben zuvor genannte Prarol Suzita, ihre Taten zugaben, verblüffte mich. Vermutlich auch alle anderen. Anstatt heiligem Feuer schleuderten meine Gefährten lediglich böse Worte gegen die Henker kleiner Kinder. Und ließen sich mit der süffisanten und kryptischen Anmerkung, dass sie sich “morgen früh ein Bild von der Gerechtigkeit der Faust machen könnten” des Ortes verweisen.

Ostolin’s Hold

Im Flammenden Krug saßen wir dann alle beisammen. Bei Bier und Schnaps. Wahrscheinlich halfen die Drogen über den ersten Schock hinweg. Maeral war von dem namengebenden, schwebenden und in Flammen stehenden Krug inmitten des Schankraums ganz ergriffen. Gumba entlockte den anwesenden Soldaten der Faust ein paar interessante Geschichten: eine der Gefangenen ist eine Dunkelelfe, die man nördlich von Yartar in eine Falle gelockt hatte. Vielleicht soll die morgen hingerichtet werden? Keiner der anschließenden Versuche die Gefangene zu finden oder den Kerker aufzuspüren war der Erfolg vergönnt.

Meister Kahn hatte ein ganz schlechtes Gefühl. Er wollte nicht die Nacht in der Festung verbringen. Wir fühlten uns auf Schritt und Tritt beobachtet. Die Gefährten entschieden sich nordwestlich der Stadt, auf der anderen Seite der Klippen in einem Waldgebiet zu übernachten. Obwohl tatsächlich nur einen Bogenschuss weit von der Festungsmauer entfernt, wähnte man sich ob der vermutlich hunderte von Fuß tiefen Schlucht zwischen Lagerplatz und Siedlung in Sicherheit.

Wir verließen die Ostolin’s Hold. Gumba behauptete seinem Eichhörnchen aufgetragen zu haben, für die Gefährten in der Siedlung zu spionieren. Dieser Druide! Wir fuhren querfeldein, immer den Klippen wie einem Meeresufer folgend. In der Tiefe hinter den steil abfallenden Felsen waberte ein undurchdringlicher Nebel. Schon wieder Nebel.

Die Nacht verging ereignislos. Im Gegensatz zum frühen Morgen. Noch bevor die Sonne aufging, klang das Geräusch von Trommeln zu unser herüber. Die Zwergenaugen von Gumba entdeckten auf einem der Dächer eine dunkle Gestalt vor dem heller werdenden Himmel. Maeral schickte Mellon über die Schlucht. Durch die Augen seines Familiars erspähte der Elfenmagier mehr als ein halbes Dutzend riesiger Spinnen an den Wänden der Festung! Kaum hatte sich die Fledermaus der Gestalt auf dem Dach genähert, beschwor diese mit einer schnellen Geste eine schimmernde Geisterhand, die Mellon mit nekromantischer Energie vernichtete! Schockierend! Nebel begann aus der Stadt selbst aufzusteigen und in den ersten, dünnen Strahlen der Morgensonne konnten wir erahnen, wie die Riesenspinnen über die Mauer krabbelten. Die Trommeln verstummten. Ersetzt durch panische Schreie! Die Gefährten schwangen sich auf die Pferde und galoppierten um die Klippen herum den langen Weg zur Siedlung!

Als wir die Brücke nach Ostolin’s Hold endlich erreichten, mussten wir an fliehenden Bewohnern vorbei. Paggen, Snake Eyes und Maeral waren voraus und ritten in die Festung. Anselma und Gumba blieben etwas zurück. Auch weil die immer aufmerksamen Augen des Zwergs eine seltsame Beobachtung machten: eine Familie - Vater, Mutter, Sohn - die verdächtig zielstrebig und behände drei Pferde aus einem einfachen Versteck holten und wie von der Riesenspinne gestochen nach Süden sprengten. Anselma und Gumba nahmen auf Uthred die Verfolgung auf! Später sollte ich erfahren, dass sie zu zweit auf einem Pferd chancenlos gegenüber dem Vorsprung der drei einzelnen Reiter gewesen waren.

In der Festung wichen wir Übrigen den ausreitenden Soldaten der Faust aus. Verfolgten sie jemanden? Es hatte den Anschein. Uns schenkten sie keine Beachtung. Auf dem Hinrichtungsplatz baumelten noch zwei arme Seelen. Die mittleren drei Stricke aber waren abgeschnitten! Hektisch wurde von einem Überfall berichtet. Ein weiß-gehörnter Dämon mit Hufen sei es gewesen. Ein teuflischer Nebel wäre plötzlich ringsherum aufgestiegen. Riesige Spinnen aus der Hölle hatten angegriffen! Man konnte die Hand vor Augen kaum sehen. Dann noch pechschwarze Dunkelheit! Maeral, Paggen und Snake Eyes suchten nach dem Platz der Gestalt auf dem Dach. Doch es war nichts zu entdecken. Der findige Paggen benutzte eine seiner fantastischen Erfindungen und lief, ja wirklich, lief geradewegs die Festungsmauer hinunter. Snake Eyes folgte mit Maeral der magischen übertragenden Bitte von Gumba schnell zum Lagerplatz zurückzukehren.

Paggen sollten wir erst später und als letztes wieder in unserem Lager sehen. Der Gnom berichtete aufgeregt von seinem Weg am Grund der Schlucht, als er inmitten Düsternis auf morastigem Grund einer frischen Spur folgte, die zu einer Strickleiter auf unserer Seite führte. Die Leiter hinauf und weiter zu einem anderen Lagerort. Ein versteckter Platz, mit dem Gehölz des Waldrandes wie ein Kobel geformt. Das kam ihm bekannt vor. Ein versteckter Wagen. Auch das kam ihm unheimlich bekannt vor. Doch diesmal keine Toten.

Druidin

Stattdessen der gehörnte Dämon mit Knochenschädel! Und bei ihm eine Riesenspinne! Eine Riesenspinne, die sich in eine splitternackte, überall tätowierte oder bemalte Frau verwandelte! Schließlich drei Reiter: ein muskelbepackter Krieger, eine magiekundige Tieflingsfrau und ein kleiner, blonder Junge. Paggen wurde entdeckt! Eine Art Feuer hüllte ihn ein und machte ihn zur leichten Zielscheibe. Sein Bericht war insgesamt ein wenig seltsam. Der Dämon soll ein Loch im Boden beschworen haben und etwas von “Luft holen” gesagt haben. Der kleine Junge soll das Kommando zur Abfahrt gegeben haben. Die Tieflingsfrau kannte Paggens Namen!?


Ich denke mir, vielleicht spielt das Gedächtnis des Gnoms ihm einen Streich, weil er gerade mit dem Leben davongekommen ist? Das Eichhörnchen beendet seinen gestenreichen, aber stummen Bericht. Mit einer mir nicht gänzlich begreiflichen Sicherheit scheinen die Gefährten - und insbesondere Herr Kahn - folgendes zu verstehen: die drei befreiten Delinquenten waren eine Gnomin, ein Barbar und eine Dunkelelfe. Snake Eyes holt den Steckbrief hervor, der ihnen von der Dame Seraphina gegeben worden war. Und tatsächlich erkennt Paggen darauf den blonden Jungen wieder. Das war kein Junge! Das ist Isabella Clara Teotochi Fortunata de Brandagamba. Das vermisste Halblingsmädchen aus Bleeding Vines. Er ist sehr überzeugt davon, wie mir scheint.

Mysteriös. Feinde der Faust? Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde? Oder nicht? Und nun? Werden meine Gefährten nun wahre Gerechtigkeit für Danara, Arzuk, Nilfa und Patrick schaffen?

Fiat Lux!